Meine Mutter

Für Erika F.

Meine Mutter wankt
Gebeugt in alter Trainingshose
Das Grauhaar am Hinterkopf geknotet
Durch den Garten

Einundachtzig ist das Jahr
Ich bin verwirrt
Sagt sie
Habe geträumt oder was

Steht die Hände über
Der gefallenen Brust
Hebt die gelaserten Augen
Darf ich mich kurz setzen?

Fragt sie
Gewiss
Die Nacht hat gekühlt
Seit ich den Überblick verlor

Wann wurde ich geboren?
Wann kamst du mein Sohn
Bruchstück meines Lebens
In Einzelteilen durcheinander?

Süß lächelt die Uhr in ihrem Faltengesicht
Ich mache Kaffee
Und du?
Hast du alles?

Fragt sie
Ich weiß
Sagt sie
Grau hängt überm Dorf die Zeit

Welches Jahr haben wir?
Welchen Tag?
Still lauschen die Ohren
Dem Nichts

Ohne Anfang streifen die Tage
Und kehren nicht zurück
Leer ist der Topf
Wenn er ein Loch hat

Flau hängen die Wolken
Zwitschern die Jungschwalben
Meinen Namen
Alles dünn wie Nabelschnur

Wer war mein erster Mann?
Wann wurde die DDR?
Das Deutsche Reich?
Fragen über Fragen

Ich
Sagt sie
Höre das Zirpen der Meisen nicht
Wiederhole das Wort Verwirrung

Wiederhole Demenz!
Papier ist mein Leben
Staub die Veranda
Zeitungen Schriften Briefe

Alles Tütensuppe
Wo gehe ich?
Wo komme ich?
Wann wurden meine Tage gezählt?

Sie steht
Den Arm schräg in den Himmel
Heil mein Führer
Ich folge dir

Dann Flucht ins Reich
Grün quillt die Uckermark in den Norden
Erleuchtet der Wald das Grau
Schreitet der Zug der Wildgänse durch den Herbst

Den Vater sehe ich nicht
Schlaff hängen meine Knochen
Das Knie der Ellenbogen das falsche Gebiss
Ich zergehe wie Einrührkakao

Sagt sie
Du bist mein Sohn
Ich deine Mutter

Alle Wege führen zum
Haus der Großeltern
Wo war ich stehen geblieben?

Über Nacht
Stürzen tote Bäume wie Dolche
In den See

2010


Veröffentlicht9. Oktober 2020 von sylviawa in Kategorie "Anarchie der Wälder", "Ungefähre Krisen