Meinem Vater

Ein Sonntag im September
Grau der Gesang des Regens
Geduld hat den Ungeduldigen ergriffen
Der Held nimmt Abschied

Still und kalt liegt er im weißen Bett
Der Tod bedeutet ihm nichts
Nur der Weg dorthin
Er ist ihn gegangen

Oberschlesien zerrissenes Land
und wieder zurück
Henryk mein Herr
Großer Vater meiner Söhne

Was wäre zu sagen?
Deine hohe kalte Stirn
die spitze Nase
der rundliche Gang

Du wurdest gezeugt
in einer Sternennacht
Die Mutter schrie vor Freude
und trieb dich in den Tag

Du stiegst in andere Frauen
Das Heldenbild vor mir
der unerfüllte Wunsch blieb ich

und sah dass wir uns entzweiten
Mit zerbrochenen Köpfen
liegen wir im goldenen Sand

Jetzt schreitest du über die Felder
deiner grauen Kindheit
Fahrensmann mit dem Bücherkarren
Meisterdirigent der Silben

Erinnerst du die heißen trockenen Sommer?
Die schwitzende Bergstraße hinauf?
Der Duft der Kiefern

Wir fuhren per Rad
Die Streganzer Berge
Sperrgebiet!
Betreten verboten!
Es wird ohne Anruf scharf geschossen!

Den Nacken gebeugt gehüllt in Rauch
saßest du den Worten ergeben
Es klapperte die alte Erika
und ich in deinen Armen

An deiner Brust deinem Stierkopf
die nach Zigarette stinkenden Finger
Die Aussicht da oben
Der beste Platz auf Erden

Ewigkeiten her dass du meine Mutter
im Arm hieltst ihr leise ins Ohr flüsterst
ihre Hüfte schwungvoll stößt
Schließ die Augen beim Erguss

So muss das Kind entstanden sein
Die Liebe war Verfall in Raten
Niemand konnte das besser ausdrücken

Kapellmeister der Kommata
Hauer im Bergwerk der Verständigung

Im Dunklen muss irgendwo ein Lichtlein brennen
Sie kamen neunzehnhundertneununddreißig
die motorisierten Deutschen
zur Freude der Eltern
Zucht und Ordnung im eisernen Gepäck

Jetzt war man wieder wer im Dreiländereck
Gute deutsche Wertarbeit
Solide Geschäfte
auch im nahen Auschwitz
Wie sah das der Hitlerjunge?

Fortan wurde deutsch gesprochen
und auf dem hohlen Bauch gekrochen
Man machte sich schmutzig
wenn man die Hände mit Seife wusch

Mit achtzehn die Knarre in der Hand
Und den Helm ab zum Gebet!
Das Glück ist nicht wählerisch
Der Tod ist überall
Du aber darfst weiter
Eins links eins rechts

Wenn Systeme fallen helfen Pulswärmer!

Nach dem Führer kamen die nächsten
Du schiebst den Ball übers Feld
Im Zwiespalt der Systeme
Deutschland Polen die Heimat ist
immer woanders

Wie Treibholz durchschwimmst du die Oder
Abgewrackter Held der nullten Stunde
Sterben ist besser als gar nicht leben
Der Geist der Literatur
nimmt dort seinen Anfang

Vater
Wie du in dunklen Stunden deine Fäden spinnst
Unzufrieden bleibt der Zufriedene
Glückliches Unglück
Wo steht geschrieben dass wir
sein müssen?

Das großartige Werk aber
Der Ewigkeit beschriebener Beleg
Wer weiß?

Zerriss im inneren Exil
Der real existierende Ismus
Der Schluck aus der Pulle
Literatur pur
Die Jahre vergehen einfach so

Kommt Zeit kommt Rat
Es ist nie zu spät eine Dummheit zu begehen

Als du auf die fünfzig zugehst
stolpert das System
Mutig setzt du deine Unterschrift unter
die Protesterklärung
Hast Angst nie gekannt
Lächerlich die Gehilfen der Macht

Du überwindest die Hürden im Geist
Qualmst eine Zigarette nach der anderen
ein Schnaps ein Bier
gleich vorn am Tresen im Stehen

Das kann ewig dauern
Das Betrachten der Stille
Die durchsichtigen Schatten

Im Sommer der Sandhügel
die Hütte aus Holz
Spielplatz der Lust
Unvorstellbar ohne dich
das flirrende Gras
Hart saust die Axt ins Holz

Gut waren deine Sprüche
Das Schwimmen im Wolziger See
Auf seinem Grund glitzerten
die weißen Muscheln

Im Winter auf leisen Sohlen
schleich ich durchs Haus
Am Schreibtisch am hölzernen
sitzt du mein Führer

Neunzehnhundertneunundachtzig
stürzt der falsche Buddha
eine Bühnendekoration
Du hast lange gewartet

Jetzt sind sie da
Hongkong Islands wilde Weiten
Frei ist der Ungebundene
Erkundet die andere Straßenhälfte
und trägt seine Mutter und
den Bruder zu Grab

Die Wege werden
die Füße schmerzen länger

Es blüht das Land
In der Mitte der Stadt
zwischen Bratwurstständen und Autohäusern
die endliche Wunde

Trinkst in Maßen
arbeitest mehr denn je
Schreibst dein Gedicht
Schwer drückt am Abend das erfrorene Gewissen

Zeit zergeht einfach so
Die Angestellten ehren ihren Helden
Trotz aller Unfertigkeit
sinkt die Sonne in die Spree

Fleißig meißelst du
das heilige Buchstabenalphabet
die Papierbibliothek
Jetzt wird die Ernte eingefahren

Der Schlaganfall zweitausendfünf
An medizinische Apparate
künstliche Ernährung
schließt man dich
Die Stimme die Worte versagen

Die dünnen Beine nirgendwohin
Du schaust in deiner Kindheit Bett
Mutter reicht ihre runden Brüste
Vater zeigt wo´s langgeht
Das Irrenhaus der deutschen Geschichte

Die katholische Kirche
Der weiße Weihrauch
Das war dein Leben großer Mann

Jetzt gehst du ins Nichts
in das wir alle fliegen

Jetzt sprechen wir
mit dir wie mit einem Toten
und du mit uns

Und lesen die von dir geschriebenen Seiten
Den Bericht einer Zeit

2005/06


Veröffentlicht21. August 2020 von sylviawa in Kategorie "Schwelgen auf verlorenem Posten