Henryk

Mein Vater,
geboren neunzehnsechsundzwanzig
in Polen, im Zeichen des Stiers, im
vom Bergbau und Kriegen zerrissenen
oberen Schlesien.
Seine Mutter,
ein Engel, sein Vater
ein Bergmann, zuhause
harte Zucht und Ordnung.

Der Alltag eine katholische
Kirche, der weiße Weihrauch,
der ewige Glauben an die
überirdische Herrschaft, tiefes Pochen
der kleinen Familie auf bessere Zeiten,
in welcher Sprache auch immer.

Neunzehnneununddreißig,
Einmarsch der Deutschen zur Freude
der Eltern, jetzt ist man wieder wer
im Dreiländereck, alles hat seine Ordnung,
gute deutsche Wertarbeit,
auch im nahen Ausschwitz, wie
sieht das der Hitlerjunge?

Es wird wieder deutsch gesprochen und
mit achtzehn die Knarre in der Hand,
den Helm ab zum Gebet.
Das Glück ist nicht wählerisch.
Der Tod ist überall, er darf weiter,
eins links, eins rechts, eins fallen lassen.

Als er neunzehn wird, stürzt Adolf vom Sockel.
Verwirrende Jahre der Suche, des Zwiespalts,
in der Anarchie der Systeme.
Deutschland oder Polen, die Heimat ist
immer woanders.
Die falschen Herrscher überall,
der Auswurf neuer Parolen.

Er hat seine Lektion gelernt:
Schweigen im Wald.

Neunzehnsechsundfünfzig ein Aufbruch –
von kurzer Dauer, er ist
verheiratet, seine Geliebte die
Literatur, der Alkohol,
das freie Leben.
Keiner sagt ihm, dem Stier, dem Ungeduldigen,
wohin diese Reise gehen wird, nirgendwo ein Ziel.
Aber Pläne.

Mit vierzig heiratet er ein zweites Mal,
eine jüngere Frau, eine bessere Wahl.
Unzufrieden bleibt der Zufriedene,
glückliches Unglück, sein Traum
das bedeutende Werk.
Zerrissen im inneren Exil,
der Schluck aus der
Pulle, Literatur pur.

Die Jahre wandern.
Kommt Zeit, kommt Rat.
Es ist nie zu spät, eine Dummheit zu machen.

Als er auf die fünfzig zugeht, stolpert das System,
mutig setzt er seine Unterschrift unter
die Protesterklärung, eine
Zigarette nach der
anderen, ein Schnaps, ein Bier,
gleich vorn am Tresen.
Sein Durst hat keine Zeit.
Das kann ewig dauern: Das
Betrachten der Stille, der durchsichtige Schatten.
Seine große Liebe – Tschechow.

Als er die sechzig überschreitet, ist
die Zeit gekommen, neunzehnneunundachtzig
stürzt der falsche Buddha.
Er hat lange gewartet,
diese blöden Kommunisten.
Er stellt das Rauchen ein,
betritt die Welt,
Hong Kong, Islands wilde Weiten.
Frei ist der Ungebundene,
erkundet die andere Stadthälfte
und trägt seine Mutter und
seinen Bruder zu Grab.
Die Wege werden, wenn
die Füße schmerzen, länger,
aber der Kopf ist frei.
Freier denn je.

Als er die siebzig vollendet, erblüht das
vereinte Deutschland in vielen Farben,
er lebt in der Mitte der Stadt, zwischen
Bratwurstständen und Autohäusern
genießt er die Früchte,
trinkt in Maßen, arbeitet mehr denn je.
Er muss etwas schaffen.
Keine Zeit, ächzt der Eilende.
Es gibt viel zu tun,
packen wir es an!
Jeden Tag ein gutes Gedicht,
eine gute Zeile.

Als die Achtzig vor der Tür steht,
fallen ihm Ehrungen und Orden am Band zu,
eilige Reisen, langsam sinkt die Abendsonne,
und er rennt bei Rot über die
Kreuzung, er kann die Sekunden des
Stillstands nicht ertragen, er will
sein Leben, die Tagebücher, das große Werk,
endlich.
Wann, wenn nicht jetzt?

Im Verzetteln ist er Meister.
Man kann auch sagen: Er
hat viele Talente, Freunde.
Ein beachtliches Werk.

Ein Motorrad fährt ihn im Frühling um,
der Ungeduldige, der Neugierige
muss das Bett hüten. Aber er
kann nicht warten, muss weiter,
muss arbeiten, lesen. Das Herz streikt,
flimmert, eine riskante Situation,
die er nicht will. Jetzt
gibt der Herzschrittmacher
den Takt, er eilt nach Hause,
eine Krankheit kann er sich nicht leisten.
Jetzt wird die Ernte eingefahren.

Der Schlaganfall zwei Tage später
haut ihm um: Lähmung der Atemwege,
des Schluckmuskels, eine komplette Niederlage.
Anschluss an Schläuche, medizinische
Apparate, künstliche Ernährung.
Die Stimme, das Wort, versagen. Im
Krankenbett lernt der Ungeduldige das Warten,
Hoffnung auf Rehabilitation, seine Frau und
er, zwei harte Monate.
Sein erstes Wort:
Ich will raus hier, ich muss arbeiten.

Eines Morgens, im September, im Regen,
am Sonntag kommt der Tod, greift
den Ungeduldigen im Schlaf.
Ein Ende ohne Hast.
Jetzt ist Ruhe.
Still und kalt liegt er im weißen Bett.
Der Tod ist nicht schlimm, nur
der Weg dorthin. Er ist ihn gegangen.
In der Schlacht mit sich selbst,
im Kampf gegen die Zeit,
so schreitet er über die Felder seiner Kindheit.

Er wird schreiben,
der Wechsler der Worte,
der Fahrensmann mit dem Bücherkarren.
Und er wird ruhen,
der Eilige,
ruhen wie ein Kind.

Alles Menschliche bleibt unausgesprochen
dort oben.

Katgeorie:Lass uns aus der späten Stadt | Kommentare deaktiviert für Henryk